Jetzt marschieren sie wieder, die paar Versprengten, im Regen mit ihren roten Fahnen. Jetzt lauschen sie wieder den Gedanken von allerlei sozial Bewegten zum Tag der Arbeit. Es geht um Arbeiter natürlich, um Kapitalisten und das, was zwischen beiden wohl schief laufen muss, wenn man meint, Globalisierung sei eine gute Sache.
Diese offiziellen 1.-Mai-Feiern haben etwas rührend Anachronistisches und ich gucke gerne zu, wenn ich gerade so reinstolpere. Und weil es ja meist sonst keiner tut, spiele ich an solch hochsolidarischen Anlässen immer wieder gerne den Miesepeter. Also: Der Mittvierziger neben mir – Hornbrille auf der Nase, rotes Foulard um den Hals – liest zwischen den Reden eifrig Piketty auf seinem Kindle.
Ich: „Tschuldigung, darf ich Sie was fragen?“
Er: „Nenn mich Kari, hier sind wir alle duzis.“
Ich: „Ok, Kari, denkst du hin und wieder an die Minenarbeiter, die sich krumm und krank gerackert haben, um die Rohstoffe für dein Kindle aus dem Boden zu kratzen?“
Er: (Mustert mich kurz über den Brillenrand) „Ja, schlimme Sache!“
Ich: „Tust du was für die Familien all der Chinesen, die wegen der lausigen Arbeitsbedingungen ständig aus den Fenstern von Elektronikfirmen hüpfen?“
Er: „Macht mich sehr betroffen. Gibt’s eine Sammelaktion?“
Ich: „Wusstest du, dass die Leute, die dein Kindle bei Amazon aus den Regalen gefischt und versandt haben, ständig überwacht, gegängelt und schlecht bezahlt werden?“
Er: (Leicht gereizt) „Ja, ich lese Zeitung…“
Ich: „Fühlst du dich solidarisch mit den Jugendlichen, die sich auf Afrikas Müllhalden ihre Lungen zerfetzen, weil sie unseren giftigen Elektroschrott abbrennen, um ans Kupfer zu gelangen?“
Er: „Ja, eigentlich schon.“
Ich: „Na dann.“